Fahnen im Dornröschenschlaf

Momentan halten sie im Archivraum der Turngemeinde, im Dachgeschoss des Clubheims auf dem kleinen Platz hinter der Jahnturnhalle, ihren Dornröschenschlaf: drei Traditionsfahnen der Turner, die vor einem Vierteljahrhundert aufwändig und kostenintensiv saniert wurden, um dem Zerfall zu trotzen. Sie sind wertvolle Zeugnisse der Frankenthaler Turngeschichte, wurden bei unzähligen Gelegenheiten – diversen Deutschen Turnfesten, regionalen und überregionalen Wettkämpfen und allerlei Festumzügen – mitgeführt und stolz präsentiert, wie es eine ganze Reihe von zeitgenössischen Fotografien belegen.

Die 1876 aus dem „Turnverein Frankenthal“ ausgegliederte und neu gegründet „Turnergesellschaft“ hatte sich 1880 schon eine Vereinsfahne angeschafft: auf knallrotem Feld das Frankenthaler Stadtwappen, den Eckstein, vom Vereinsnamen umrahmt, auf der weißen Rückseite im traditionellen Eichenkranz mit dem von Turnvater Friedrich Ludwig Jahn Anfang des 19.Jahrhunderts geprägten Turnergruß „GUT HEIL!“ die im Turnerkreuz arrangierten vier „F“ des alten Slogans „frisch, fromm, fröhlich, frei“.

Zum 30-jährigen Stiftungsfest 1906, gleichzeitig auch Gründungsjahr einer Turnerinnen-Abteilung, wurde der Turnergesellschaft von ihren „Frauen und Jungfrauen“ eine zweite, erheblich aufwändiger gestaltete und bestickte Fahne übereignet.

Der ältere Zweig der Frankenthaler Turnbewegung, der „Turnverein“ hatte seine Festlichkeiten zum 50-jährigen Bestehen (von 1848 an gerechnet) mit dem notwendig gewordenen Umbau und Erweiterung der Sporthalle auf dem damaligen Paradeplatz (später Röntgenplatz) verknüpft. Sie mussten deswegen um zwei Jahre verschoben werden. Am 18./19. August 1900 fand schließlich die „Jubelfeier“ statt. Das Programm: Festakt, Festturnen, Festzug, Vereinswettturnen, Gartenfest – und die Übergabe einer neuen Vereinsfahne. Diese war in Blau auf der Vorderseite und Weiß auf der Rückseite gehalten und zeigte Stadtwappen mit Löwe sowie Turnergruß und Turnerkreuz. Die vier „F“ wurden dabei zusätzlich noch ausformuliert: „Frisch der Mut, fromm das Herz; froh der Sinn, frei der Geist“.

Die beschriebenen drei Fahnen zeigen sich heute in ihrer ganzen Farbenpracht. Fast 20.000 DM mussten für die Restaurierung im Zusammenhang mit der 150-Jahrfeier 1996 investiert werden. Auf einigen Fotos ist noch der teilweise wahrlich erbärmliche Zustand der Exponate Anfang der 90-er Jahre dokumentiert.

Nun hängen die kostbaren Stücke im Archiv; zusätzlich haben sich auch noch eine Vielzahl von Fahnenbändern (bis zurück in die 50-er Jahre des vergangenen Jahrhunderts) erhalten, die den Vereinen bei den diversen Gau-, Landes- und Deutschen Turnfesten Turnfesten als Beleg ihrer erfolgreichen Teilnahme übereignet wurden, an die Fahnenstange eingehängt und bei den Umzügen mitgetragen wurden.

Nun wird es erst richtig interessant. Die Fahnen von Turnverein (aus dem Jahr 1900) und Turnergesellschaft (von 1880 und 1906) sind nach Auswertung der Chroniken mitnichten die ältesten Frankenthaler Turnerfahnen. Der Turnverein Frankenthal, schon 1846 – damals noch ohne behördliche Genehmigung – aus der Taufe gehoben, hatte nach Ausweisung im Frankenthaler Wochenblatt am 9. Juni 1848 auf einer Generalversammlung neue Statuten erarbeitet und fungierte nun als Verein. Zwei Monate später, am 13.8.1848, wurde in Frankenthal eine Bürgerwehrfahne eingeweiht, die auf Anregung von Frau Ernestine Spatz, der Schwester des damaligen Turnwartes Peter Fries, von Frankenthaler Bürgersfrauen und Töchtern der Bürgerwehr gestiftet worden war. Ausdrücklich wird die Beteiligung der Turner an der Einweihung der schwarz-rot-goldenen Fahne er­wähnt.

Für den Turnverein schloss sich infolge der politischen Wirren und Querelen nach dem badisch-pfälzischen Aufstand eine längere Zwangspause an, die erst 1861 mit neuer Vereinsgründung beziehungsweise wieder aufgenommener Turnaktivität beendet wurde. Im vereinsgeschichtlichen Überblick in einem umfangreichen Artikel in der Frankenthaler Zeitung vom 27. November 1918 anlässlich der 70-Jahrfeier des Turnvereins wird die Festrede des 1. Vorsitzenden G. A. Perron wiedergegeben. Hier wird ausdrücklich darauf verwiesen, dass beim 1. Pfälzischen Turnfest vom 8. bis 12. September 1861 in Neustadt der Turnverein Frankenthal als einziger von allen Vereinen im Besitz einer Fahne war, „einer schönen und doppelt wertvollen…, weil es die oben erwähnte schwarz-rot-goldene Bürgerwehrfahne von 1848 war.“ Sie war 13 Jahre lang verborgen gewesen, bis sie von Turner Fritz Riel, dessen Vater sie seinerzeit bei der Auflösung der Bürgerwehr in Verwahr genommen hatte, nun aus dem Versteck geholt wurde. Da die Mitglieder der Bürgerwehr 1848 auch dem Turnverein angehört hatten und sich jetzt wieder dem neu gegründeten Verein anschlossen, wurde die infolge der Beschädigung im Mittelteil ergänzte Fahne am 1. September 1861 dem Verein übereignet.

Erst unlängst wurde von mir im TG-Archiv eine Fahne entdeckt (es lässt sich nicht mehr nachvollziehen, wann und woher die plötzlich aufgetaucht ist), bei der es sich meines Erachtens um dieses historische Objekt handeln dürfte, das sich wunderbarer Weise über 1 ½ Jahrhunderte bis heute erhalten hat und somit – wenn wirklich aus der Revolutionszeit Mitte des 19. Jahrhunderts stammend – als eine der ältesten Fahnen der Deutschen Turner­schaft gelten könnte. Der in ein feines Netz und eine Plastikfolie eingefasste Fahnenstoff ist stark in Mitleidenschaft gezogen; dennoch lässt sich auf beiden Seiten die schwarz-rot-goldene Farbe noch erkennen. Auf einer Seite sind noch Fragmente des Stadtwappens sowie die Ziffern 4 und 8 erhalten, auf der anderen Seite lassen die Buchstaben- und Zahlenreste den vor der Übergabe dort eingearbeiteten Vereinsnamen „Turnverein zu Frankenthal 1861“ zumindest erahnen.

Es steht außer Zweifel, dass wir es hier mit einem Objekt von außergewöhnlicher historischer Bedeutung – nicht nur für den Verein, sondern auch für die Stadt und die Turnbewegung – zu tun haben. Und dass hier ein schnelles Handeln notwendig ist, um diese geschichtsträchtige Fahne vor dem Verfall zu bewahren. Das in zwei Jahren anstehende 175-jährige Bestehen des Vereins sollte hier Ansporn sein.